Von der Insel der Ahnungslosen in die Sichtweite
des Westberliner Fernsehturmes
Ich zog Bilanz - und die sah kulturpolitisch und meine Laufbahn betreffend, nicht rosig aus. Inzwischen 30 geworden, mit der niedrigsten Stufe der Ehrennadel für Fotografie geehrt (obwohl ich von allen Rügener Fotografen die meisten Preise errang), ständiger Agitation und Propaganda von Kulturfunktionären sowie Gängelei von Provinz-Bonzen ausgesetzt, entschloss ich mich (schweren Herzens) die Insel zu verlassen.
Aus meinen über 600 Seiten Stasi-Unterlagen weiß ich heute, dass ich von 1958 (1957 Republikflucht) bis 1965 unter totaler Überwachung stand. Warum also in "allen Getrieben Sand war", wird nun verständlich.

Am 11.11.1972 saß ich 8 Stunden lang im eisigen Fahrtwind auf dem sich schüttelnden Anhänger eines LKW, der meinen Umzug nach Potsdam durchführte. Ich hatte (nach 6 Jahren freier Tätigkeit) nicht das Geld, eine richtige Spedition zu bezahlen.
Eine neue Ära begann, und alles das, was mir auf Rügen versagt blieb, erfüllte sich im Übermaß! In der gleichen Woche meines Umzuges meldete ich mich beim Kulturbund des Bezirkes Potsdam an, um meine einzige Mitgliedschaft, die ich in der DDR hatte, fortzusetzen.
Zwei Tage später klingelte es an meiner Tür und drei Männer standen draußen. Wie sich herausstellte, waren es: der Leiter des Fotoclubs Potsdam, Günther Wilms, der Vorsitzende der Bezirkskommission Fotografie des Bezirkes Potsdam, Gerhard Stegelin, und der 1.Sekretär der Bezirksleitung des Kulturbundes, Schubert. Alle drei erklärten, dass es für sie eine Ehre sei, einen "so renommierten Fotografen" begrüßen zu dürfen und künftig in Ihren Reihen zu wissen. Sie seien sicher, dass meine Mitarbeit die Fotografie im Bezirk Potsdam voran bringen würde.

Ich selbst - aus der Provinz kommend - konnte die Ehre kaum fassen, von hochrangigen Funktionären zu Hause aufgesucht zu werden. Als Betroffener ist man kaum in der Lage, seinen eigenen Stellenwert einzuschätzen. Und nun merkte ich die praktische Auswirkung eines (heimlich) von DDR-Bürgern ausgesprochenen Satzes: "Dresden ist das Tal - und Rügen die Insel der Ahnungslosen!" In beiden Regionen war der Empfang westlicher Fernsehsender nicht möglich, und das kleinkarierte Denken von jedem Möchtegern-Sozi bestimmte dort den Alltag. Hier - in Sichtweite des Westberliner Fernsehturmes - konnte ich auf mehr Fairnis und Weltoffenheit hoffen...
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